Die verlorene Ehre der Katharina Blum
oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann
// Heinrich Böll, Bühnenfassung von John von Düffel, P.: 10. März 2023, Theater Altenburg Gera
Nach einer Partynacht stürmen Polizisten die Wohnung von Katharina Blum und nehmen sie fest. Dabei ist man gar nicht auf der Suche nach ihr, sondern nach Ludwig Götten, mit dem sie die Nacht verbracht hat. Doch der gesuchte Kriminelle ist trotz Überwachung spurlos verschwunden – und Katharina, die nichts über dessen Verbleib sagen möchte, gerät in das Visier der Ermittler.
Viel schlimmer als die Verdächtigungen der Polizei trifft Katharina jedoch das enorme mediale Interesse an ihrem Fall. Vor allem Sensationsjournalist Tötgens wittert hinter jedem noch so intimen Detail aus Katharinas Leben einen neuen Skandal und Beweise für die haltlosesten Anschuldigungen. Arbeitgeber, Freunde, Nachbarn und ihre Familie werden ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt, mit Fragen zum vermeintlichen „Verbrecherliebchen“ behelligt und ihre wörtlichen Zitate bis zur Unkenntlichkeit verdreht – mit fatalen Folgen für Katharinas Alltagsleben.
Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll (1917-1985) verfasste seine Erzählung bereits 1974 als Manifest gegen tendenziöse Berichterstattung und öffentliche Hetzkampagnen, als deren Opfer er sich selbst betrachtete. Die Verfilzung staatlicher Institutionen mit der Privatwirtschaft prangert er darin ebenso an wie die latente Diskriminierung von Frauen. In Zeiten von Fake News, Metoo-Debatte und Lobbyismusvorwürfen hat „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ nichts von ihrer gesellschaftlichen Sprengkraft verloren.
Mit: Ines Buchmann, Thorsten Dara, Heiko Senst, Antonia Marie Waßmund, Thomas C. Zinke
Regie: Johanna Hasse
Bühne & Kostüme: Christian Klein
Video: Thorsten Hallscheidt
Musik: Olav Kröger
Licht: Julia Friedrich
Dramaturgie: André Hinderlich
// Presse
Es ist Karneval, und da fliegen Luftschlangen und Kamelle durch den Zuschauerraum vom Theater. Amüsant, unterhaltsam beginnt das Stück, von dem man weiß, es wird tragisch enden. Doch der Reihe nach. Katharina Blum, eine ruhige junge Frau, macht in der Karnevalsnacht den Fehler ihres Lebens. Sie lässt sich auf eine Nacht mit Ludwig Götten ein. Der aber ist ein Krimineller, der schon lange von der Polizei beobachtet wird. Als die am nächsten Tag die Wohnung von Katharina Blum stürmt, ist Götten verschwunden. Katharina wird verhaftet. Die Presse ist natürlich von Anfang an dabei und die Polizei ist bei der Befragung nicht gerade zimperlich. Die Schauspieler rekonstruieren den Fall, übernehmen die Rolle des Erzählers. Ganz selbstverständlich fügt sich das in die Inszenierung von Johanna Hasse ein. Die ist überhaupt wunderbar offen. Alle Schauspieler, bis auf Katharina Blum, sind dreifach besetzt. Sie ziehen sich einfach am Bühnenrand um und bekommen auch dort ihre neue Maske.
Das alles fügt sich wunderbar in ein Stück ein: Bühne, Kostüm: feinster 70er Jahre Stoff. Großartig auch, dass alle auf der Bühne mit einer kleinen Kamera gefilmt werden und zeitgleich auf der großen Leinwand zu sehen sind. Man wird einfach hineingezogen in die Geschichte. Immer neue Lügenstories erfindet die „Zeitung“. Thorsten Dara gibt hier den wunderbar widerwärtigen Schmierfinken Tötges, der alles verdreht und Katharina einen zweifelhaften Ruf andichtet. Die Polizei schließlich kann Katharina Blum nichts nachweisen. Doch der Rufmord durch die Zeitung lässt in Katharina einen Entschluss reifen. Sie erschießt den Journalisten, der ihr Leben zerstört hat, in nur vier Tagen. MDR Thüringen Radio, 12. März 2023
Wie ein fliegender Zeitungsverkäufer auf Koks brüllt Boulevard-Journalist Werner Tötges seine Lügengeschichten über Katharina Blum heraus: Die angebliche Gangsterbraut habe im Februar 1974 ihrem Geliebten, einem unter Mordverdacht stehenden Bankräuber, zur Flucht verholfen. Während Schauspieler Thorsten Dara mit der Videokamera in der Hand und schmieriger Sonnenbrille auf der Nase den medialen Shitstorm ins Rollen bringt, wird sein sensationslüsternes Gesicht im Kinoformat auf Leinwand projiziert.
Dieses Wechselspiel zwischen Bühnenspiel und Leinwandübertragung ist eine der großen Stärken der Geraer Theateradaption des Böll-Klassiskers „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Am Freitagabend feierte die Bühnenfassung nach John von Düffel im Großen Haus Premiere. Regisseurin Johanna Hasse, die schon einige Filmarbeiten realisierte, kreiert hier brillante Dialogszenen zwischen Bühnenrealität und Video-Livemitschnitt, etwa wenn Hauptkommissar Beizmenne (Heiko Senst) Katharina Blum (Antonia Marie Waßmund) im Präsidium verhört. Wenn er von der Leinwand herab bedrohlich auf die schweigende Verdächtige einredet, sie versucht zu überzeugen zu gestehen. Doch Katharina schweigt. Sie will nichts über Männerbesuche erzählen, die sie laut Umfeldbefragungen erhalten habe.
Dabei fing alles an diesem Theaterabend so unbeschwert an. Fünf Schauspieler – oder sind sie schon in ihren Rollen? – feiern Fasching, werfen sogar Bonbons und Luftschlangen ins Publikum. Doch nach der Polonaise kippt die Stimmung. In wechselnden Erzählerrollen ziehen sie die Zuschauer hinein in die tragische Erzählung von Nobelpreisträger Heinrich Böll. Die dröselt fast polizeiprotokollarisch auf, wie „die Blum“ zum Opfer einer Schmutzkampagne und schließlich zur Journalisten-Mörderin wird.
Regisseurin Hasse verlangt ihren Schauspielern viel ab. Sie bewältigen in den Zweieinhalbstunden eine beeindruckende Textmenge, schlüpfen in bis zu drei Rollen und erreichen dabei ein Niveau und eine Intensität, dass man sich in einem Arthousefilm oder Netflix-Serie glaubt. Ines Buchmann gibt beispielsweise eine wunderbar ängstlich aufgedrehte Zeugin ab. Heiko Senst mimt grandios einen Kommissar, dessen selbstgefälliges männliches Überlegenheitsgebaren früher als souverän galt. Und Antonia Marie Waßmund spielt eine kühle, hilflose und dennoch standhafte Katharina Blum, deren Monologen man Stunden lauschen könnte. Zugleich erzeugt das Quintett den Eindruck, hier stände ein viel größeres Ensemble auf der Bühne.
Damit die Umzüge schnell klappen, setzt die Regisseurin die Garderobe nebst Schminktisch und Maskenbildnerin gleich mit auf die Bühne. Auf diese Weise sorgt sie für weitere Aufklärung. Während Böll die Auswüchse von Presse und Ermittlungsbehörden entlarvt, gewährt Hasse interessante Einblicke hinter die Kulissen.
Ästhetisch stechen besonders Christian Kleins Kostüme und die authentischen Perücken heraus – die braunen Schlaghosen und grobgemusterten Blusen. Auch das lässt in diesem großartigen, geistreichen Stück an Streamingerfolge denken. Ostthüringer Zeitung, 13. März 2023