Halt mich auf
// Annika Henrich, Berlin-Premiere: 29. April 2022, Hamburg-Premiere: 18. Mai 2022, eine Koproduktion zwischen dem Theater unterm Dach Berlin und dem Monsun Theater Hamburg. Gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von NEUSTART KULTUR, dem Bezirkskulturfonds der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa und der Ilse und Dr. Horst Rusch-Stiftung.
Inmitten heutiger urbaner Realität kämpfen vier Existenzen rund um einen maroden multifunktionalen Gebäudekomplex um Selbstbehauptung. Zwischen Vereinzelung und Liebessehnsucht, Gentrifizierung und Prekariat suchen sie nach Zugehörigkeit: Eine junge Frau will eigentlich Schauspielerin sein, schleppt sich mit ihrem selbstgeschriebenen Monolog aber bloß von Job zu Job. Eine Biotechnologin verbringt die Zeit am Arbeitsplatz damit, möglichst beschäftigt auszusehen. Es ist zu spät, um jemanden nach ihrer genauen Aufgabe zu fragen. Und ein Bauunternehmer versteht die Welt nicht mehr, als eine Menschenmenge gegen seine geplante Sanierung aufbegehrt. Auch sein Sohn ist unter den Demonstrierenden und sorgt für die Protestmusik. Kommentiert wird das Ganze von den Stammgästen der Kneipe nebenan, die im Nichtstun ihre ganz eigene entrückte Form der Rebellion gegen die Einsamkeit in einer anonymen Großstadtwelt gefunden haben.
Annika Henrich wurde mit dem Publikumspreis des Hans-Gratzer-Stipendiums für ihr Debütstück „Halt mich auf“ ausgezeichnet. Darin verdichtet die junge Autorin melancholisch-humorvoll die brennenden Themen urbaner Existenzen und treibt ihre Ausweglosigkeit in absurden und entlarvenden Momenten auf die Spitze. Mit Sympathie blickt sie auf die Lächerlichkeit ihrer Figuren, die sich auf der Suche nach ihrem Platz im Leben abstrampeln und macht dabei politische Fragen zu Wohnraumverteilung und prekären Arbeitsverhältnissen sichtbar.
Mit: Christina Hilkens, Quintus Hummel, Luise Schnittert, Urs Fabian Winiger
Konzept & Regie: Johanna Hasse
Konzept & Ausstattung: Francoise Hüsges
Licht: Thomas Schick (Berlin), Kianosh Kinz (Hamburg)
Technik & Streaming: Armin Andor, Oliver Gayk, Robert Schüller (Berlin), Armin Andor, Martin Hüsges, Kianosh Kinz (Hamburg)
Produktionsleitung: Elisa Calosi
Pressearbeit: Leonie Venzau (Berlin)
// Presse
“Halt mich auf” ist ein Stück über den Existenzkampf in der urban-kapitalistischen Betonwüste, über Entfremdung und die Sehnsucht nach Liebe, über die Frage, wann man wer ist und ob das überhaupt erstrebenswert erscheint. Das Stück von Annika Henrich feierte am 29. April 2022 unter Regie von Johanna Hasse in einer Koproduktion zwischen dem Theater unterm Dach Berlin und dem monsun.theater Hamburg in Berlin Premiere.
Im Grunde treibt alle vier Figuren dieselbe Frage um: Wie bestehe ich nicht nur die Herausforderung in einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft, sondern finde in diesem ständigen Überlebenskampf auch noch mein Leben: das, was mich ausmacht, das, was mich zu jemandem macht? Christina Hilkens in der Rolle der jungen Frau hält entgegen aller Widrigkeiten an ihrem Traum fest: Sie will Schauspielerin werden. Dass sie auch knapp 700 Vorsprechen nicht durch eine Rolle, ein Engagement von Hartz IV befreien können, hält sie für einen vorübergehenden Zustand. Weil sie sich keine Wohnung leisten kann, hat sie eine ehemalige Frittenbude besiedelt. Mit unerschütterlichem Optimismus labelt sie diese als Tiny House. Zwischen Euphorie, Verzweiflung und Wahnsinn schwankt Christina Hilkens‘ Darstellung einer Heldin, die den Demütigungen des Jobcenters und den Bedrohungen ihrer Existenz tapfer die Stirn bietet. Sie gipfelt in einer bejubelten Brotsorten-Litanei in der die junge Schauspielerin ihre vom Jobcenter vermittelte Erwerbstätigkeit als Bäckereifachverkäuferin verarbeitet.
Leiser, zaghafter und melancholischer zeigt Luise Schnittert ihre Biotechnologin. Fast ein bisschen stolz berichtet sie, wie sie sich in ihrer Existenz als gut bezahlte und grandios gelangweilte Akademikerin eingerichtet hat: „Mit einem Doktor in Naturwissenschaften fragt dich keiner mehr, was du jeden Tag zwischen 9 und 17 Uhr machst.“ Und so sitzt sie die Zeit einfach ab – ohne jemals einen einzigen Handschlag in ihrem Job zu tun, dessen Inhalt ihr von Anfang an unklar war: „Aber irgendwann ist es zu spät, um nochmal zu fragen.“ Ihre Selbstaufgabe entbehrt der Komik nicht. Sie mimt die Hauptfigur in ihrem eigenen, vollkommen sinnentleerten Leben nur. Ein bisschen Melancholie kommt auf, als sie an ein Augenpaar denkt, von dem sie sich einst verzaubert gefühlt hat. Aber die Erinnerung an Gefühle wischt sie weg. Als ihre krebskranke Mutter bei ihr einzieht und ihr Chef ihr dafür aus Mitgefühl Urlaub gibt, flieht sie vor der Frau, zu der sie mit dem Durchtrennen der Nabelschnur jegliche Verbindung verloren hat, auf eine öffentliche Toilette. Bald hat sie sich dort ganz gut eingerichtet und beschert sie dem Publikum eine wunderbar bluesige Hymne auf den stillen Ort. Fest umklammert Luise Schnittert eine Plastikorchidee, die einzig wahre Liebe ihrer Biotechnologin, und gibt eine vielversprechende Kostprobe ihrer Gesangskünste.
Sehr musikalisch zeigt sich auch Quintus Hummel in der Rolle des anarchistischen Enfant terrible. Die meiste Zeit über fungiert er im Hintergrund oder neben der Handlung als eine Art Sound Machine mit verschiedensten Instrumenten und Gesang, bevor er sich irgendwann als der Sohn des Bauherrn zu erkennen gibt. Er ist „zu gutaussehend, um schon zu sterben“ und entwirft deswegen mit seinen Freund*innen eine radikale Zukunftsvision. Gemeisam besetzen sie das Haus, das sein eigener Vater als Bauherr betreut. Die „Bruchbude“ soll abgerissen und durch einen „multifunktionalen Gebäudekomplex“ ersetzt werden. Die jungen Wilden nehmen dem Bauherrn nicht ab, dass dies ein „Sozialprojekt“ sein soll und demonstrieren gegen das Vorhaben. Sie werfen Pflastersteine (die Zuschauer*innen dürfen mit unter ihren Sitzen platzierten Pappsteinen mitmachen) und skandieren Parolen. Doch der Protest reicht ihnen bald nicht mehr, Mutter Erde scheint sowieso verloren. Also konzentrieren sie sich auf den Mars … Quintus Hummel schenkt seiner Figur mit seinem leicht spöttischen Lächeln eine Überlegenheit über das Dasein im Hamsterrad, insbesondere seines Vaters. Seine musikalische Begleitung des Bühnengeschehens hingegen verrät in ihren leisen Tönen auch eine große Empathie für die Sinnsuche und den verzweifelten Überlebenskampf der urbanen Existenzen.
Der Bauherr schließlich ist als Gegenfigur zu den übrigen entworfen. Er scheint ein Erfolgsmensch zu sein, ein Selfmade-Millionär. Immer unter Strom, immer auf Zack – Urs Fabian Winiger prügelt sich hier auch physisch zu sportlichen Leistungen – braucht er nur vier Stunden Schlaf pro Nacht, denn er habe zu tun. So, wie die beiden Frauen sich einreden, dass ihre eigentlich unaushaltbare Lebenslage nur temporär bzw. ganz angenehm ist, wenn man nicht so genau hinsieht, so redet der Bauunternehmer sich ein, mit seiner Arbeit einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Dem Vorwurf der Gentrifizierung entgegnet er: „Wenn ich es nicht tue, tun es andere.“ Die Proteste gegen sein Bauvorhaben aber beunruhigen ihn zusehends: Seine Fassade aus Selbstgewissheit und Selbstgerechtigkeit bröckelt. Urs Fabian Winiger lässt Zweifel und Erschöpfung dahinter aufscheinen und schnurrt den Master of Desaster zu einem Würstchen zusammen. Auf dem Klo sucht er nach Schutz – und trifft dort auf die anderen Figuren. Es kommt zum Showdown.
Die Kloschüssel auf der Bühne (Françoise Hüsges) steht als originelles Symbol für das existentiell Menschliche im Zentrum des Geschehens. Drum herum entwickelt sich ein dynamischer, unterhaltsamer und tragikomischer Theaterabend, der aktueller nicht sein könnte. – Die Realität dringt in den fiktionalen Raum, als Darstellerin Christina Hilkens ein Schreiben herumreicht, in dem ihr Vermieter ihr kündigt. Den eigentlich vernichtend pessimistische Blick auf den Überlebenskampf der Figuren brechen Text und Darsteller*innen mit einer großen Portion Humor und dem etwas zynischen Glauben an eine Zukunft auf dem Mars. Gelungen! Junge Bühne, 1. Mai 2022
Auf jedem Stuhl liegt ein Pflasterstein. Obwohl täuschend echt aussehend, eine Pappattrappe. Wozu er jedoch noch gebraucht wird, wird erst im Laufe des Stückes klar. Zunächst geht es allerdings nicht um Protest, eher um das Gegenteil davon. Drei Menschen versuchen zu funktionieren, in diesem System des einsamen Immer-Höher-Immer weiter. Da ist eine junge Schauspielerin (Christina Hilkens), die erst nach dem gescheiterten 700.Vorsprechen anfängt, an ihrem Vorhaben Schauspielerin zu werden zu zweifeln. Obwohl sie sich die ganze Zeit von einem Nebenjob zum nächsten hangeln musste, um wenigstens die Miete für ihr tiny house zusammen zu kratzen, glaubte sie fest an ihren Traum. Da ist die Biotechnik-Wissenschaftlerin (Luise Schnittert), die unter einer Berufsbezeichnung, die nicht einmal sie versteht, jeden Tag in ihrem Büro acht Stunden lang nichts tut und dennoch pünktlich ihr Gehalt bekommt. Abends flüchtet sie sich in ihre Wohnung in den 11. Stock und genießt die von menschlichen Besuchern unversehrte Ordnung ihres Rückzugsortes. Als jedoch ihre todkranke Mutter dort für ihre letzten Wochen mit einziehen muss, flüchtet sie auch vor dieser menschlichen Begegnung. Und da ist der immer agile Immobilienunternehmer (Urs Fabian Winiger), der schon im Kindesalter wusste, dass er einst Millionär werden will. Endlich weiß er nun auch wie: Er hat den maroden Gebäudekomplex, bestehend aus einem Betonsockel aus Geschäften und einem Turm aus Büros und Wohnungen erworben und will ihn sanieren. Ein Projekt mit hoher Renditeaussicht. Wenn bloß die aufkeimenden Proteste der Anwohner und Bürger nicht wären. Unter ihnen sogar sein eigener Sohn (Quintus Hummel). Als ihm die schon erwähnten Pflastersteine um die Ohren fliegen, fühlt er sich völlig missverstanden. Das ist doch ein Sozialprojekt, ruft er immer wieder.
Eierköpfe kommentieren das Geschehen. Wie ein Chor aus verschiedenen Stimmen betrachten sie die Absurditäten auf dem Kreisel und schütteln die Köpfe. Beobachtenden Nichtstun ohne jede Übernahme von Verantwortung auch hier.
Alle diese drei finden sich kurz darauf an einem stillen Örtchen wieder: In den Klos der vierten Etage. Hier sitzen sie in ihren Kabinen nebeneinander und dürfen endlich den Fremden nebenan, die sie nicht sehen können, ihr Herz ausschütten. Für einen kurzen Moment leuchtet so etwas wie Solidarität, Mitmenschlichkeit, Kontakt und sogar eine Utopie auf. Vielleicht steigen sie aus diesem wahnwitzigen Leistungskreislauf in dem Gebäudekomplex, der nur der Kreisel genannt wird, einfach aus und gründen eine Wohngemeinschaft? Während der Sohn im Hintergrund noch das Glitzerkonfetti streut und die Diskokugel aufhängt, grinst er schon verschmitzt. Er hat mit seinen Aktivisten dafür gesorgt, dass aus diesem Traum nichts werden kann. Das Haus brennt schon! Denn während die drei sich hier abrackern, hat die nächste Generation schon die Fakten geschaffen. Sie hat das Publikum mit den Pflastersteinen versorgt, sie hat die Bevölkerung auf die Barrikaden gerufen und sie hat selbst für den eigenen Notausgang gesorgt, wenn ihre Vorgänger:innen ihre Zukunft auf diesem Planet hier unmöglich gemacht haben werden. Sie werden sich aufmachen in neue Welten. Der Raumanzug deutet an, wohin die Reise gehen könnte.
In einer Kooperation zwischen dem Theater unterm Dach und dem Monsuntheater ist eine erneute Zusammenarbeit entstanden mit Hamburger und Berliner Beteiligung. Johanna Hasse zeichnete dieses Mal für das Regiekonzept und Francoise Hüsges für das Ausstattungskonzept zuständig. Der Text der jungen Autorin Annika Henrich ist eine echte Entdeckung. Nicht nur dass sie in ihm die Problematiken der Einsamkeit in der heutigen Leistungsgesellschaft und die menschenverachtenden Entwicklungen der Immobilienwirtschaft gekonnt zuspitzt sondern auch die Sprache, die sie dafür verwendet, zeugt von großem Schreibtalent. Dass Hasse diesen Stoff auch noch mit ihrem Berliner Team um einen Unterhaltungswert anreichert und mit dem Hamburger Musiker und Schauspieler eine verschmitzte Metaebene mit einzieht, macht den Abend umso sehenswerter. www.hamburgtheater.de, 23. Mai 2022