Die Fliegen
// Jean-Paul Sartre, P.: 11. Dezember 2008, Hans Otto Theater Potsdam
Nach 15 Jahren kehrt der Königssohn Orest in seine Geburtsstadt Argos zurück, deren Bürger einst der Ermordung ihres Königs Agamemnon durch Ägist und Klytämnestra tatenlos zugesehen haben. Jetzt üben diese sich in kollektiver Reue, gemahnen doch die von Gott gesandten Fliegen sie beständig an ihre Schuld. Orest wird Zeuge, wie an seiner Schwester Elektra während eines Sühnefests ein Exempel statuiert wird. Die Gesetze der Götter missachtend, stößt Orest die Axt ins Fleisch der wehrlosen Mörder seines Vaters. Doch seine scheinbar befreiende Tat führt nicht automatisch zur Freiheit der anderen.
Mit: Harald Arnold, Rita Feldmeier, Matthias Hörnke, Gisela Leipert, Peter Wagner, Alexander Weichbrodt, Jenny Weichert
Regie: Johanna Hasse
Bühne & Kostüme: Vinzenz Gertler
Musik: Marc Eisenschink
Dramaturgie: Sebastian Stolz
// Presse
Sartre, der erfolgreichste „Cheerleader“ des französischen Theaters der 50er und 60er Jahre, ist fast völlig von unseren Spielplänen verschwunden.Verfallsdatum abgelaufen? Vermutlich, doch jetzt hat sich das Hans Otto Theater den Franzosen zur Brust genommen. Aber ziemlich respektlos, also genau richtig. Johanna Hasse inszeniert Sartres 1943 uraufgeführtes Stück „Die Fliegen“ in der recht saloppen Übersetzung von Traugott König. So flott wie die Übersetzung ist auch Hasses Regie, die das Stück kräftig entrümpelt, Personal und Handlung reduziert. Sartre benutzte den antiken Stoff – die Rache Orests an den Mördern seines Vaters – um seinen Freiheitsbegriff dramatisch zu exemplifizieren: Frei sind die Menschen, wenn sie sich entschieden haben und für ihre Entscheidung einstehen. Hasse hält von dem nicht viel. So muss Orest seinen Schlusssatz „Ich habe meine Tat getan, Elektra, und diese Tat war gut … Ich bin frei“, in einer Endlosschleife immer wieder repetieren, so wie ein Kind, das im Wald gegen die Angst pfeift. Eine schmissige Aufführung mit zwei überragenden Darstellern: Alexander Weichbrodt als Orest und Jenny Weichert als Elektra. zitty Berlin, Heft 2/2009
Jean-Paul Sartres „Fliegen“ machen es dem Zuschauer nicht unbedingt leicht. Gerade, weil das Stück so klar zeigt, was es von uns will. Geschrieben zur Zeit der deutschen Besatzung, uraufgeführt 1943 im okkupierten Paris, ist es ein unverhohlener Appell an die Menschen, in Zeiten, da sich die Götter verzogen oder als falsch erwiesen haben, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Nicht aus edlem Heroismus, sondern einfach, weil wo Gott tot ist, dem Menschen nur er selbst bleibt. Dass das nicht viel ist und zugleich alles, was wir haben, darum geht es Sartre. Dass daher eine manchmal nur schwer zu tragende Verantwortung rührt, darum geht es ihm auch.
Freiheit ist eine Verbannung, heißt es in den „Fliegen“ einmal. Ist der Mensch erst einmal da, nimmt ihm das keiner mehr ab. Der den Satz von der Verbannung sagt, ist kein anderer als Jupiter, Göttervater und zugleich Gott der Reue. In den „Fliegen“ ist er höchstselbst vom Olymp hinabgestiegen, um sich von der Stadt Argos am Tag der Toten feiern zu lassen. Seit Klytämnestra und Ägist hier vor 15 Jahren König Agamemnon nach seiner Heimkehr aus Troja ermordeten, suhlt sich die Stadt in Reue und Selbstgeißelung. Allen voran Klytämnestra, die von den Jahren der Schuld ausgemergelte, außen wie innen zu Stein gewordene Frau Agamemnons, die ihren Mann tötete, weil der einst ihre Tochter Iphigenie geopfert hatte.
Rita Feldmeiers erster Auftritt als von Leid und Hass verhärmte, nur von Make-up und Kostüm zusammengehaltene Klytämnestra , ist einer der eindrücklichsten des Abends, vielleicht gar der Spielzeit überhaupt: eine Mumie des toten Gefühls, deren versteinertes Äußeres ahnen lässt, was drinnen vor sich ging, bevor da noch nicht grausiges Nichts war. Was für die Menschen Leid, ist für die Gottheit Genugtuung, Bestätigung ihrer Macht. Mit Peter Wagner ist Jupiter nicht der alte zottelbärtige Tyrann von antiken Statuen (die Maske davon trägt er unterm Arm), sondern ein platinblonder Jüngling, der kühl und spielerisch betrachtet, was seine Schäflein so umtreibt. Dass er nicht böse, nicht autoritär daherkommt, sondern sympathisch selbstverständlich ist ein gelungener Versuch der Regie, gegen die manches Mal arg lehrbuchartigen Figuren Sartres anzugehen. Ähnlich mit Orest (Alexander Weichbrodt). Er, der Sohn des Ermordeten und Bruder der zurückgelassenen Elektra, ist bei Sartre Fackelträger des Freiheitsgedanken. Erstmals kehrt er in seine Geburtsstadt, zurück – als „Bildungsreisender“, begleitet von einem Gelehrten (Harald Arnold), der ihn im Geist der Vernunft, des „heiteren Skeptizismus“ erzogen hat. Anders als die Bewohner Argos‘ kennt er weder Schuld noch Reue; gegen das christliche Prinzip der Selbstgeißelung setzt er Eigenverantwortung. Die er sich freilich erst erabeiten muss: Um Teil der blutigen Geschichte – und somit auch schuldig – zu werden, muss der „Bildungsreisende“, der Anzug- und Brillenträger, der zu Beginn arg arglos ins Publikum starrt, seine Mutter und ihren neuen Gatten (Matthias Hörnke) ermorden.
Anders als Elektra (erst stolz, dann berührend von der eigenen Schwäche eingeholt: Jenny Weichert), die sich vom Schuldgedanken nicht lösen kann, bettelt Orest bei den Göttern nicht um Vergebung für seine Tat sondern wählt bewusst seine Einsamkeit. Bei Sartre verlässt er am Ende, von den Erinnyen verfolgt aber doch über die wütende Menge triumphierend, die Stadt. In der Inszenierung von Johanna Hasse sind die Rachegöttinnen, zurecht aus dem Text verschwunden. Dass man sie nicht sehen muss, um den Schmerz Elektras und die Ruhelosigkeit Orests zu spüren, zeigt, was Jenny Weichert und Alexander Weichbrodt hier schaffen: dem Gedankenspiel Sartres pulsierendes Leben zu geben. Die Schatten der Erinnyen, die „Fliegen“, rauschen mal als surrendes Geräusch, mal in der hektischen Geste derer, die sie loswerden wollen durch die Inszenierung. Orest bleibt am Ende allein zurück, gefangen in den Satzschlaufen seiner Überzeugungen: „Das ist meine Tat und sie war gut. Ich bin frei“. „Freiheit ist nur eine Krätze, die dich juckt“, hatte Jupiter ihm zuvor gesagt. Das stimmt natürlich nur halb. Freiheit ist keine Krankheit. Aber das Schlussbild mit dem verlorenen, verstörten Orest zeigt auf bestürzende Weise, wo sie wehtun kann. Potsdamer Neueste Nachrichten, 13. Dezember 2008
Dies ist ein Appell an die Freiheit des Menschen, sich von der Zwangsvorstellung eines vorbestimmten Schicksals zu lösen, selbständig Entscheidungen zu treffen und ihre Konsequenzen in voller Eigenverantwortlichkeit zu tragen. Es ist ein Gedankenspiel mit dem Existenzialismus, wie die französischen Intellektuellen Jean-Paul Sartre und Albert Camus ihn verstanden, und es ist ein leidenschaftlicher Aufruf im Widerstand gegen die deutschen Besatzer im zweiten Weltkrieg – und nicht zuletzt ist es auch eine moderne phantasievolle Bearbeitung der griechischen Tragödie, die mit dem Untergang des Geschlechtes der Atriden seine Ablösung von einem menschlich fixierten und handelnden Götterhimmel einleitet.
All diese bemerkenswerten und hochgradig sensiblen Intentionen in eine spannende, auf das Wesentliche reduzierte und doch letztlich in eine Euripides wie Sartre gerecht werdende Inszenierung einzubinden und auszuleuchten, ist seit Menschengedenken auf deutschen Bühnen nicht mehr erfolgt. Glücklicherweise geht Johanna Hasse in der Reithalle des Potsdamer Theaterensembles mit beeindruckender Leichtigkeit an diese große Aufgabe heran und bringt eine bemerkenswerte Aufführung zustande, die mit einem souveränen Peter Wagner als ebenso zynischer wie autoritärer Göttervater, einer erschütternden Jenny Weichert als stolze und verzweifelt auf Rache sinnenden Elektra und einem ungewöhnlichen Orest besetzt ist: Alexander Weichbrodt spielt ihn als einen aufgeklärten Verstandesmenschen im Sinne Sartres, der am Ende den Mord an der Mutter und ihrem Liebhaber als sühnenden Akt der Befreiung beschwörend und zugleich an sich zweifelnd feiern wird. www.theaterkritiken-berlin.de, Dezember 2008