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Statistiker sind die letzten Romantiker

// Dokumentarfilm/Videoinstallation von Johanna Hasse im Rahmen der gleichnamigen Schaufensterausstellung von Maike Techen, Katharina Schlender und Johanna Hasse, Vernissage: 9. April 2021, Haus der Statistik Berlin, www.diestatistiker.com. Gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa, Projektfonds Zeitgeschichte und Erinnerungskultur.

Ehemalige Mitarbeiter:innen der “Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR” erinnern sich. Für die Schaufensterausstellung “Statistiker sind die letzten Romantiker” (nach einem Zitat von Robert Musil) wurden acht Zeitzeug:innen befragt, die ihre Arbeit und ihr Leben als Mitarbeiter:innen in der „Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik“ verbracht haben. Diese Zeitzeugen sind heute zwischen Mitte sechzig und neunzig Jahre alt. Von der Fotolaborantin, über die Sekretärin bis hin zum stellvertretenden Leiter und dem Chef des Rechenzentrums der Staatlichen Planwirtschaft. Sie geben ihre persönlichen Erinnerungen preis und erzählen, wie es für sie war, damals zu DDR-Zeiten im Haus der Statistik zu arbeiten. Sie berichten von ihrem Leben und geben einen Einblick in Zahlen, Zensur und Zerstreuung. In Planwirtschaft und Mangelwirtschaft. In Umstände und Widersprüche.

Gesamtkonzept und Produktion: Maike Techen
Dramaturgie und Fiktion: Katharina Schlender
Kamera und Schnitt: Johanna Hasse
Ausstellungsrealisierung und Webdesign: Marco Locatelli

  • Produktionsort: Berlin, 2021
  • Format, Länge: 16:9 Farbe, 73 Minuten

 

// Presse

Wenn am Alexanderplatz die Sonne untergeht, erwacht das „Haus der Statistik“ plötzlich zum Leben. Schon von Weitem können Autofahrer auf der Karl-Marx-Allee die beleuchteten Scheiben erblicken. Projektoren werfen von innen Filme an das Glas des 60er-Jahre-Baus. Mit der Schaufensterausstellung „Statistiker sind die letzten Romantiker“ können Passanten ganz Corona-konform in die Vergangenheit des maroden DDR-Komplexes eintauchen, ohne auch nur einen Raum zu betreten.
Der Betrachter wird visuell in die ehemalige „Staatliche Zentralverwaltung für Statistik“ geführt, deren Foyer mit Fahrstühlen, Sitzgelegenheiten und großflächigen Fenstern einst einer Hotellobby glich. „Im Erdgeschoss stand auch die Rechenanlage mit einem schönen IBM-Rechner, den uns Schalck-Golodkowski in den 70er-Jahren besorgt hatte“, berichtet Wolfgang Kühn, langjähriger stellvertretender Direktor des DDR-Statistik-Amts in einem der Videos. Die Lochkarten-Datenverarbeitungsanlage „Robotron 300“, die in den 60er-Jahren im VEB Elektronische Rechenmaschinen Karl-Marx-Stadt entwickelt wurde, sei dagegen nie zum Einsatz gekommen, erklärt der heutige Rentner.
Kühn ist einer von acht Zeitzeugen, die berichten, wie sie die DDR anhand von Zahlen durchleuchteten. Gerhard Heske zum Beispiel bekam die Aufgabe, einen Bericht über den Lebensstandard der Bevölkerung anzufertigen. „Die SED hatte die Losung ausgegeben, die BRD einzuholen“, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter. Doch die Zahlen, die er und seine Kollegen an das SED-Politbüro für die kommenden Jahrzehnte lieferten, zeigten, dass das ökonomisch einfach nicht möglich war. Die Statistiker hatten zum Beispiel zu überprüfen, ob sich Investitionen in West-Technik, die mit Gütern aus der DDR bezahlt wurden, für die Volkswirtschaft auszahlten.
So lieferte ein Erfurter Automobil-Werk unter anderem Pressen für den VW Golf. Im Gegenzug bekam die DDR ein paar Pkw. Eine Methode, die sich nach der Auswertung der Experten nicht rentiert habe, heißt es in der Ausstellung.
Die Daten und die Analysen, die im Haus am Alex gesammelt und erstellt wurden, seien unverfälscht gewesen, betonen alle Zeitzeugen gleichermaßen. Vieles sei erst vom Politbüro für die Öffentlichkeit geschönt, manches auch einfach geheimgehalten worden.
Volkseigene Betriebe, die ihre von oben vorgegebenen Ziele aufgrund von Materialmangel nicht erreichen konnten, seien später in der Gesamtstatistik einfach nicht mehr aufgetaucht, berichtet eine Ex-Mitarbeiterin.
Kühn erinnert sich, wie DDR-Chef Erich Honecker 1987 vor einem Besuch in Bonn von den Statistikern einen „schonungslosen Bericht zum Vergleich von DDR und BRD ohne Tabus“ forderte. „Als wir diesen ablieferten, kam die Ansage: ,Alle Unterlagen dazu sind sofort zu vernichten.’“ Vor allem Günter Mittag, als ZK-Sekretär der SED für Wirtschaftsfragen der Planwirtschaft zuständig, habe immer wieder in das Statistikamt „reinregiert“.
„Nach außen sollte immer rauskommen, dass es immer vorwärts geht im Sozialismus“, sagt auch Julia Wittig, die von 1981 bis 1990 in der Abteilung Lebensstandard arbeitete. Wie sie erst später aus ihren Akten erfuhr, waren mindestens drei ihrer engeren Kolleginnen bei der Stasi. „Man wusste, man hatte immer einen Spitzel im Haus. Man war immer auf der Hut.“
Eine andere Zeitzeugin berichtet, wie ihr inzwischen verstorbener Mann von westlichen Geheimdiensten bei einem Besuch in West-Berlin abgefangen wurde, um ihn zu überreden, statistisches Material zu verkaufen. Obwohl er damals abgelehnt habe, sei er Jahre später wegen angeblicher Spionage ins Gefängnis gekommen, berichtet die ehemalige Fotolaborantin des Statistikamts. Eindrücklich schildert diese, wie sie und ihre Familie bis zum Ende der DDR von der Stasi überwacht und drangsaliert wurden.
Einige der Protagonisten sieht man in den Video-Interviews über das zum Teil stark verwitterte Gelände laufen, in dessen Innenräumen teilweise noch 50 Jahre alte DDR-Blümchentapete an den Wänden klebt. Der Komplex mit mehreren Blöcken, die bis zu zwölf Etagen hoch sind, entstand Ende der 1960er-Jahre.
Nach der Wiedervereinigung zog das Statistische Bundesamt in den Gebäudekomplex ein, der bis 2008 auch die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen beheimatete. Nach vielen Jahren des Leerstands wird das „Haus der Statistik“ nun gemeinwohlorientiert entwickelt.
Das Erdgeschoss bespielen schon seit einiger Zeit Mitglieder von Kunst-, Kultur- und Sozial-Projekten. Neben Ateliers und Wohnungen soll bis 2024 auch ein neues Rathaus für den Bezirk Mitte entstehen.
Mit Hilfe des virtuellen Rundgangs kann man einen Blick in die ehemaligen Büros, aber auch in die Kantine mit begrüntem Innenhof werfen, in der auch Betriebsfeiern stattfanden. Wanderungen, Theaterbesuche und Gartenfeste gehörten zur betrieblichen Verpflichtung. „Wir waren eine schöne Gemeinschaft, die sich heute noch regelmäßig trifft“, erinnert sich Volkswirtin Brigitte Halm. Konkurrenzkampf unter den Mitarbeitern oder Leistungsdruck wie in der heutigen Zeit habe es damals nicht gegeben. „Wer Karriere macht oder gefördert wird, hat die Partei sowieso schon im Voraus bestimmt.“ Märkische Oderzeitung, 19. April 2021